Tagung „Kindheiten“ im Deutschlandfunk

Am 4. Februar 2010 sendete der Deutschlandfunk in seiner Sendung „Studiozeit“ einen Beitrag von Dörte Hinrichs und Hans Rubinich über die Tagung „Kindheiten“:

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Hier können Sie den Text des Beitrages nachlesen:

Zwischen romantischer Utopie und traumatischer Erfahrung:
Die Darstellung von Kindheiten in Literatur und Psychoanalyse

Von Dörte Hinrichs und Hans Rubenich

Vor allem die Romantiker sahen in der Kindheit das reine Ideal, von dem sich die Erwachsenen weit entfernt hatten. Doch spätestens mit Sigmund Freud wurde auch die Vielschichtigkeit und Konfliktanfälligkeit dieser prägenden Lebensphase deutlich.
„‚Hast du ein Taschentuch?‘, fragte die Mutter jeden Morgen am Haustor, bevor ich auf die Straße ging. Ich hatte keines. Und weil ich keines hatte, ging ich noch mal ins Zimmer zurück und nahm mir ein Taschentuch. Ich hatte jeden Morgen keines, weil ich jeden Morgen auf die Frage wartete. Das Taschentuch war der Beweis, dass die Mutter mich am Morgen behütet. In den späteren Stunden und Dingen des Tages war ich auf mich selbst gestellt. Die Frage „Hast du ein Taschentuch?“ war eine indirekte Zärtlichkeit. Eine direkte wäre peinlich gewesen, so etwas gab es bei den Bauern nicht.“

Herta Müller anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises 2009.

„Dieses Taschentuch kann als Metapher gelten für das Beschütztsein durch die Mutter einerseits, aber auch als Metapher für die Fähigkeit mit einem Objekt eine eigene Welt zu inszenieren. Eine Welt, in der die Dinge eine eigene Wertigkeit erhalten. Und genau das macht ja die Literatur. Dass sie die Dinge neu benennt, gleichsam eine neue Welt schafft, in der eine Erfahrungswelt eine Realität außerhalb erst eigentlich zu sich kommen kann, in dem sie in der Literatur neu erfunden wird, in eine neue Form der Inszenierung hinein gebracht und in dieser Inszenierung etwas sichtbar wird an Struktur, was uns verwehrt ist in der Realität, was wir nicht sehen können in unserem alltäglichen Lebensvollzug. Und das sind die tief berührenden Momente in der Literatur, wenn wir an diesen Szenen eine tiefe Wahrheit erkennen, die uns im realen Vollzug verdeckt geblieben ist.“

So die Literaturwissenschaftlerin Prof. Ortrud Gutjahr von der Universität Hamburg. Wie vielfältig die Inszenierungsformen von Kindheit in der Literatur als Schauplatz eines frühen Selbst sind, dazu gab sie in ihrem Vortrag bei der Freiburger Tagung anschauliche Beispiele und Analysen. Schon Sigmund Freud verwies darauf, dass dieses frühe Selbst unserer Kindheit und das gegenwärtige Ich des Erwachsenen auseinanderfallen. Was wir als Kind gefühlt und gedacht haben, lässt sich in der Erinnerung nur begrenzt rekonstruieren. Kindheitsdarstellungen in der Literatur sind dabei immer auch gefiltert durch bestimmte Erfahrungen, durch eine bestimmte Zeit, durch bestimme kulturelle Muster. Und nicht nur das:

„Zugleich erfahren wir immer von einem Bruch, einer Schwelle, einem Übergang. Ich glaube, es wäre sinnvoll, Kindheit von diesem Übergang zu begreifen. Denn in keiner Lebensphase des Menschen später wird dieser Übergang so radikal vollzogen. In keiner Phase des Lebens werden so große Brüche bewältigt, muss soviel gelernt werden, neu erlernt werden wie in der Kindheit. Die Kindheit ist eine Phase des ersten Mals. Es ist das erste Lächeln, es ist das erste Fixieren des Blickes, es ist die erste Bezugnahme auf einen anderen, es ist das erste Wort, das gesprochen wird, der erste Schritt, der getan wird. Und diese Übergänge sind fundamentaler Art und begleiten uns unser ganzes Leben. Und deswegen ist die Kindheit immer eine Phase, auf die das erwachsene Subjekt rekuriert. Wenn es versucht, seine eigene Geschichte zu rekonstruieren.“

Dass die Kindheit eine erinnerungswürdige und prägende Lebensphase ist, diese Erkenntnis hat sich erst relativ spät durchgesetzt. Prof. Joachim Pfeiffer vom Institut für Deutsche Sprache und Literatur an der Pädagogischen Hochschule Freiburg:

„Das Interessante ist ja, dass der Begriff der Kindheit eigentlich gar nicht existierte über Jahrhunderte. Das ist die These von Aries. Die wurde auch infrage gestellt. Aber ich finde sie immer noch sehr produktiv.
Vor allem das Mittelalter kannte Kindheit nicht als eigene Phase. Sondern die Säuglingsphase ging über in den kleinen Erwachsenen. Und die Kinder wurden auf den billigen Darstellungen so angezogen wie Erwachsene. Was ich aber auf jeden Fall interessant finde, das ist diese Idee ‚Kindheit existiert entweder gar nicht‘ oder ‚Kindheit ist eine unreife Vorstufe des eigentlichen Menschen‘, nämlich das des Erwachsenen-Menschen – das geht hinein bis in Entwicklungspsychologien etwa von Piaget. Der zeigt auf, wie das kleine Kind heranwächst, verschiedene Stufen durchläuft und immer perfekter wird. Aber auch darin ist ja noch eine Abwertung der Kindheit inbegriffen.“

Gutjahr: „Erst im 18. Jahrhundert wird – wenn wir uns die deutschsprachige Literatur ansehen – Kindheit als eine notwendige Lebensphase erachtet, in der Grundmuster herausgebildet werden für ein späteres Leben. Grundmuster, die sich etwa immer wieder wiederholen, die wieder bearbeitet werden. Muster, an denen sich der Einzelne orientiert. Wir finden in der Literatur beispielsweise die Autobiografie, die sich im 18. Jahrhundert sehr verändert und zwar dahin gehend, dass wir die Geschichte des Subjektes erfahren von der frühen Kindheit bis ins erwachsene Leben hinein. Und dass die Kindheitserlebnisse dargestellt werden als prägende Erlebnisse für ein späteres Leben, für eine spätere Berufung, für spätere Ausrichtungen sei es beruflicher Art, sei es emotionaler Art, sei es der Partnerwahl, sei es der Berufswahl.“

Davon zeugen Werke von Goethe wie zum Beispiel „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ oder „Dichtung und Wahrheit“. In der Romantik wird dann die Kindheit verklärt, Novalis spricht vom „Goldenen Zeitalter“, dem unerreichbaren Ideal für Erwachsene. Aber die Entzauberung lässt nicht lange auf sich warten und die Phase der Kindheit erfährt seit Sigmund Freuds „Traumdeutung“, die 1900 erscheint, einen bedeutsamen Wandel:

Pfeiffer: „Ja also, Freud war natürlich für das Thema Kindheit sehr wichtig in zweierlei Hinsicht. Einmal, dass er Idealisierungen, Verzauberungen der Kindheit aufgehoben hat. Die andere wichtige Erkenntnis von Freud war, die große Bedeutung der Kindheit für die spätere Entwicklung. Also bei Freud wird ja in der Kindheit, in der frühen Entwicklung im Grunde alles grundgelegt. Und das ist natürlich auch der Ursprungsort von späteren Neurosen. Aber auch der Ort, an den ich zurückkehren muss, um spätere Verbiegungen aufzuheben.“

Genau da setzt bekanntlich die Psychoanalyse an. Und es kommt durchaus vor, dass die im therapeutischen Prozess gewonnenen Erkenntnisse auch den literarischen Prozess beeinflussen. So zum Beispiel bei Maurice Sendak, Autor des Kinderbuchklassikers „Wo die wilden Kerle wohnen“. Hier begegnet der Junge Max in seiner Fantasie den Wilden Kerlen und damit seinen eigenen Anteilen: seinen Größenfantasien, aber auch seinem Beziehungswunsch zur Mutter, wie der Frankfurter Psychoanalytiker Dr. Frank Deserno ausführte. Das vom Autor illustrierte Buch ist sehr symbolträchtig, manchmal sind die Bilder vielsagender als der Text und sorgen für eine zusätzliche Bedeutungsebene.

Auf die Macht der Bilder setzt auch der Film „Billy Elliot – I will dance“, der 2003 in die Kinos kam und mit 3 Oscars ausgezeichnet wurde. Wie hier Kindheit dargestellt wird, erläuterte Professor Joachim Pfeiffer auf der Freiburger Tagung:

„Billy ist ein etwa elfjähriger Junge – also kurz vor der Pubertät. Ein Kind. Und die Umkehrung besteht darin, dass dieses Kind seinen Vater erzieht. Der Vater ist völlig verständnislos gegenüber den Wünschen. Der Junge möchte Tänzer werden. Wächst aber in einer Umgebung auf, die dem völlig entgegensteht. Eine Bergarbeiterstadt, die Tanzen entweder mit Mädchen oder mit schwul sein in Verbindung bringt.“

Filmszene:

Vater: „Ballett!“
Billy: „Was ist verkehrt an Ballett? … Das ist absolut normal.“
Vater: „Absolut normal?“
Großmutter: „Ich war früher beim Ballett.“
Billy: „Siehst du.“
Vater: „Ja, für Grandma, für Mädchen. Nicht für Jungs, Billy. Jungs spielen Fußball oder gehen zum Boxen oder Ringen, aber doch nicht zum Ballett! Ich bitte dich!“
Billy: „Welche Jungs gehen zum Ringen?“
Vater: „Fang nicht so an, Billy.“
Billy: „Ich versteh‘ nicht, was daran verkehrt ist.“
Vater: „Doch, verdammt, du weißt es.“

Der Vater weiß nur mit Gewalt auf Billy zu reagieren und drückt ihn buchstäblich an die Wand. Doch Billy tanzt heimlich weiter. Er bringt schließlich seinen Vater dazu, seine Vorurteile abzubauen und erzieht so seinen Vater. In dem Film wird die Mündigkeit eines Kindes gegen die Unreife der Erwachsenen ausgespielt., so Pfeiffer. Der elfjährige Billy begreift, dass man sich von festgefahrenen Vorstellungen lösen muss, wenn man zu sich selbst finden will.

Die kindliche Perspektive, wie sie im Film „Billy Elliot“ zum Ausdruck kommt, wird in der Literatur des 20. Jahrhundert auch verstärkt dazu eingesetzt, um kulturelle Brüche oder traumatische Erlebnisse darzustellen. Zum Beispiel in Erinnerungen an den Holocaust. Weil durch den kindlichen Blick der Schrecken und das Grauen gleichsam aus der Perspektive eines Neutralen und nicht zum Opfer gemachten Erzählers präsentiert werden kann. Das mag für den Leser zunächst durchaus befremdend wirken, wie beispielsweise im „Roman eines Schicksallosen“ von Imre Kertész: Der unschuldige und optimistische Ton des jüdischen Jungen schockiert – erzählt er doch seine Deportation nach Auschwitz als groteskes Spektakel. Prof. Ortrud Gutjahr:

„Aus der kindlichen Perspektive können gerade große Grausamkeiten dargestellt werden mit einer großen Selbstverständlichkeit. Aber der Leser ergänzt diese kindliche Perspektive fortwährend durch einen kulturellen Code, der gleichsam in diesem Text mit transportiert wird. Der Leser ergänzt durch sein Wissen den Text, der präsentiert wird durch den kindlichen Blick. Die Literatur, die vom kindlichen Blick ausgeht, ist eine höchst kritische Literatur, eine sozialkritische, eine kulturkritische Literatur, weil sie eben mit der Insistenz auf dem Detail die Welt sozusagen in ihrer Ordnung dekomponiert. Und damit Widersprüche, Tabus, Verborgenes, Verdecktes, Unaussprechliches zum Thema macht und unmittelbar ausspricht, was sonst in der Welt der Erwachsenen, in einer Welt der Übereinkünfte, der Normen, der Reglementierungen nicht aussprechbar ist.“

Auch in Kinderbüchern werden traumatische Erfahrungen dargestellt und bieten manchmal den Lesern mögliche Formen der Bewältigung an. Das zeigte schon Astrid Lindgren in „Brüder Löwenherz“.

Jonathan wusste, dass ich bald sterben würde. Ich glaube, alle wussten es, nur ich nicht. Sogar in der Schule wussten sie es, denn ich lag ja nur zu Hause, weil ich hustete und immer krank war. Das letzte halbe Jahr hatte ich überhaupt nicht mehr zur Schule gehen können. Alle Frauen, für die Mama Kleider näht, wussten es auch. Einmal redete eine mit ihr darüber, und obwohl es nicht beabsichtigt war, hörte ich es zufällig. Sie dachten, ich schliefe. Ich lag aber nur mit geschlossenen Augen da. Und das tat ich auch weiterhin, denn wollte mir nicht anmerken lassen, dass ich dieses Schreckliche gehört hatte, dass ich bald sterben würde.

Fricke: „Bei den Brüdern Löwenherz ist eben ganz deutlich: Krümel, der körperlich leicht behinderte Bruder überlebt, weil sein von allen geliebter und gemochter Bruder Jonathan ihn rettet aus einem brennenden Haus und dabei stirbt. Schrecklicher Gedanke. Und was passiert? Natürlich das Schlimmste, was überhaupt passieren kann. Er bekommt Gespräche der Nachbarin mit, die zu der Mutter sagt: Ach, wie schade, dass ihr schöner Sohn gestorben ist. Und da denkt er natürlich: Oh Gott, hätte ich sterben sollen.“

Das Gefühl der Schuld des Überlebenden thematisierte der Stuttgarter Literaturwissenschaftler Dr. Hannes Fricke in seinem Tagungsvortrag und bezog dabei auch die aktuellen Erkenntnisse der Traumaforschung mit ein:

„Das ist genau survior-guilt, der sagt: Warum habe ich überlebt? Und nicht der andere? Und wie kann ich das irgendwie begründen?
Das Wunderbare an dem Buch von Astrid Lindgren ist eben, dass auf einer inneren Bühne dieser Krümel sich eine Welt entwirft, eine mittelalterliche Welt, wo das Geschehen an seinem Bruder wieder gut machen kann, indem er aktiv wird und er ihn rettet. Also, dass er sein survior-guilt in einem inneren Theaterstück auslebt und löst. Das Wunderschöne ist, dass sein Bruder immer für ihn eingetreten ist. Und ihn gerettet hat. Da gibt es eine wunderbare Erfahrung in seinem Leben, dass jemand da ist und ihn schützt. Und das ist eine Erfahrung, die es ihm möglich macht, später den anderen zu retten, indem er sagt: Dass, was du mir Gutes getan hast, das will ich wieder anwenden. Deshalb ist die Lösung am Ende so wunderbar. Die keine Lösung ist – wie ich es verstehe – keine Lösung ist mit dem Gang ins Paradies und es ist alles toll. Sondern in der anderen Welt ist es nicht sehr hübsch. Aber sie halten beide zusammen die Brüder. Und Krümel kann Jonathan so helfen, wir Jonathan vorher Krümel geholfen hat. Das heißt, er kann seine Ressourcen nutzen, seine Kräfte, seine Stärken trotz des Traumas, trotz der Angst vor dem eigenen Sterben. Und trotz der Verzweiflung, dass jemand seinetwegen gestorben. Dass er trotzdem noch auf andere zugehen kann. Und mit ihnen etwas machen.“

Stärker noch als Erwachsene verfügen Kinder zwar über ein hohes Maß an Verletzbarkeit, gleichzeitig aber auch über eine gewisse Flexibilität, um mit traumatischen Situationen umzugehen. Ein Phänomen, das sich sowohl in der Literatur für Kinder als auch in der Erwachsenenliteratur widerspiegelt. Dr. Hannes Fricke:

„Also diese Form mit Trauma umzugehen heißt nicht, dass man kathartisch alles wegwischt. Auf einer neuen Tafel anfängt, als ob es vorher nie etwas gegeben hätte. Sondern dass man trotzdem des Traumas, vielleicht in Erinnerung des Traumas, aber ohne sich in seinem Verhalten als Sklave dieses Traumas zu fühlen wieder nach vorne gucken kann, soweit wie dies eben geht. Es ist sehr vorsichtig und sehr zerbrechlich, aber eine sehr freundliche Geste.“

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